STUDIE ZUR MIGRANTENÖKONOMIE IN DER STADT ESSEN: ERGEBNISSE LIEGEN VOR

Vorstellung der Studie zur Migrantenökonomie (v.l.n.r.): Dr. Judith Terstriep, Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Stadtdirektor Peter Renzel, Dr. Alexandra David, Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, und Bodo Kalveram, Leiter Arbeitsmarktförderung bei der EWG. © Moritz Leick, Stadt Essen

Meldung:

Die Bevölkerung der Stadt Essen ist sehr vielfältig. Die Stadtteile sind durch Multikulturalität und Vielfalt charakterisiert. Ebenso divers ist die Ökonomie von Migrantinnen*Migranten in Essen – damit ist die Gesamtheit der Selbständigen mit Einwanderungs-/Fluchtgeschichte gemeint. Um mehr über die ethnische Ökonomie in Essen zu erfahren, hatte der Ausschuss für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Integration (ASAGI) die Stadtverwaltung Essen in Zusammenarbeit mit der EWG – Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH beauftragt, eine Studie erstellen zu lassen. Den Zuschlag zur Erstellung der Studie haben das Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und das Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. erhalten. Die Ergebnisse der Studie liegen nun vor. Die Kosten dafür wurden zu 50 Prozent durch die EWG und zu 50 Prozent aus dem Integrationsbudget des Kommunalen Integrationszentrums der Stadt Essen getragen.

Die Studie fokussiert sich auf die fünf Essener Stadtbezirke I, III, V, VI und VII in denen rund 69 Prozent der migrantischen Unternehmer*innen in Essen angesiedelt sind.

Folgende Fragen sollen durch die Studie beantwortet werden:

1. In welchen Branchen sind migrantische Unternehmer*innen tätig?
2. Wie verteilen sich migrantische Unternehmen unter Berücksichtigung ihrer Branchenzugehörigkeit im Stadtgebiet?
3. In welchem Umfang engagieren sich migrantische Unternehmen in der dualen Ausbildung?
4. Wie sind migrantische Unternehmer*innen in die lokale Wirtschaft / das lokale Ökosystem eingebunden?
5. Welche Unterstützungsformate benötigen migrantische Unternehmer*innen?

Ziel der Studie ist es, aus der wissenschaftlichen Analyse, gezielte Handlungsempfehlungen abzuleiten, die das Potenzial der Migrantenökonomie in der Stadt Essen anheben und die die Stadt Essen bei der Entwicklung von gezielten Maßnahmen unterstützen.

Basis der Studie

Aus datenschutzrechtlichen Aspekten wird in Kammern und Unternehmensverbänden die Definition Migrantinnen*Migranten nicht bzw. unvollständig erhoben. Aus diesem Grund wurde versucht anhand aktueller Studien und Forschungsarbeiten eine valide Ableitung für das Essener Stadtgebiet darzulegen. Neben diesen Daten und Daten der amtlichen Statistik wurden im Rahmen der Studie Interviews und Gespräche mit 23 migrantischen Unternehmerinnen*Unternehmern aus den fünf Stadtbezirken durchgeführt. Für die qualitative Erhebung erfolgt innerhalb der Stadtbezirke eine weitere Schwerpunktsetzung auf das Nordviertel (Bezirk I), Altendorf (Bezirk III), Katernberg (Bezirk IV), Altenessen-Nord und -Süd (Bezirk V) und Steele (Bezirk VII). Darüber hinaus sind aber auch Interviews zum Beispiel in Essen-Huttrop geführt worden. Von den 23 befragten Unternehmerinnen*Unternehmern besitzen 13 die deutsche Staatsbürgerschaft. Die verbleibenden zehn sind „Nicht-Deutsche“, wobei sechs Personen die türkische Staatsbürgerschaft haben, zwei die syrische, und jeweils eine Person einen indischen bzw. österreichischen Pass besitzt. Das Alter der Unternehmer* innen lag zwischen 28 bis 58 Jahre, wobei das Durchschnittsalter 42,6 Jahren beträgt.

Blick auf migrantische Unternehmer*innen in der Stadt Essen

Nordrhein-Westfalen und insbesondere das Ruhrgebiet sind Hochburgen für migrantische Selbständigkeit. In NRW liegt der Anteil der Selbständigen mit Einwanderungsgeschichte an allen Selbständigen bei rund 25 Prozent und damit über dem Bundesdurchschnitt. Das zeigt, wie wichtig die Migrantenökonomie ist. Das sieht man auch in der Stadt Essen. Die Bevölkerung Essens ist sehr vielfältig. Deshalb sind Essens Stadtteile von Multikulturalität und Vielfalt geprägt. Besonders viele Migrantinnen*Migranten leben in den Stadtbezirken I, III, V, VI und VII.

In den fünf untersuchten Stadtbezirken sind rund 69 Prozent aller ausländischen Selbständigen in Essen angesiedelt. Die fünf häufigsten Herkunftsländer migrantischer Unternehmer*innen in Essen sind die Türkei gefolgt von Polen, Syrien, den Niederlanden und Rumänien. Wobei polnische und türkische Unternehmer*innen in den Stadtbezirken dominieren. Selbständige aus Syrien und Rumänien folgen mit großem Abstand. Nur in den Bezirken I und V haben niederländische Selbständige einen kaum geringeren Anteil als rumänische Selbständige (Bezirk V) bzw. übersteigen diese und liegen auf Rang vier (Bezirk I). Selbständige aus den beiden ehemaligen Gastarbeiterländer Italien und Griechenland spielen eher eine untergeordnete Rolle und kommen lediglich in Bezirk VII auf einen Anteil von 2,7 Prozent (griechische Selbständige) bzw. 3 Prozent (italienische Selbständige) hinaus. Damit ähneln die Ergebnisse einer für das gesamte Stadtgebiet typischen Verteilung. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Stadt Essen liegt fast zwei Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt.

Die Ansammlung ausländischer Selbstständiger auf bestimmte Branchen ist in einigen Stadtbezirken stärker ausgeprägt als auf der Stadtebene. Polnische Selbstständige sind in den Bezirken III, V und VI zu über 60 Prozent im Baugewerbe tätig. Ähnliches gilt für rumänische Selbständige in den Stadtbezirken VI und III. Türkische Selbständige sind in allen Stadtbezirken in den beiden Wirtschaftszweigen „Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen“ und „Erbringung von sonstigen Dienstleistungen“ zu jeweils über 50 Prozent unternehmerisch tätig. Ähnlich sieht es bei den syrischen Selbständigen aus, die, wie die türkischen Selbständigen, diesen beiden Branchen zu mehr als 50 Prozent und im Stadtbezirk VII mit über Zweidrittel aller Selbständigen zuzurechnen sind. Je nach Stadtbezirk ist die Branchenkonzentration unterschiedlich stark ausgeprägt und die Rangfolge innerhalb der vier Herkunftsländer variiert. Aber die fünf häufigsten Staatsangehörigkeiten konzentrieren sich auf die gleichen Branchen.

Zwischen 2018 und 2022 waren Unternehmensgründungen in der Stadt Essen rückläufig. Ausländische Gründungen verzeichneten einen Rückgang von etwa -39,6 Prozent und deutschen Gründungen etwa -28,4 Prozent. Auf der Landesebene verzeichnete Nordrhein-Westfalen von 2019 zu 2020 auch erhebliche Einschnitte, in den Folgejahren nahmen alle Gründungen jedoch wieder zu. Dennoch sanken die Neugründungen im Zeitraum 2018 bis 2022 auf Landesebene bei Ausländer*innen um rund -22,5 Prozent und bei Deutschen um rund -10,9 Prozent. Der Rückgang fiel aber auf Landesebene im Vergleich zur Stadt Essen deutlich geringer aus.

Trotzdem ist die ausländische Bevölkerung in Essen bei Gründungsaktivitäten überdurchschnittlich stark vertreten. Die meisten Gründungen finden in den Branchen Wasserversorgung, Bauwesen, Gastronomie, Kunst und Unterhaltung sowie anderen wirtschaftlichen Dienstleistungen statt. Eine Betrachtung der Gründungen auf Landesebene zeigt ein ähnliches Bild. Der größte Unterschied zur Stadt Essen ist in der Kunst- und Unterhaltungsbranche zu erkennen. Dort haben ausländische Gründer*innen in der Stadt Essen einen höheren Anteil. Wie auch in Essen waren nach Staatsangehörigkeit auf Landesebene vor allem Gründer*innen aus Polen, der Türkei, Rumänien und Syrien am stärksten vertreten. Der Frauenanteil an migrantischen Gründer*innen ist in Essen mit 19,4 Prozent im Vergleich zur Bundesebene mit 31 Prozent sehr gering.

Die Ergebnisse beim Schließungsgeschehen von Unternehmen zeigen zudem, dass der Saldo bei ausländischen Gründerinnen*Gründern unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit positiver ausfällt als bei deutschen Gründerinnen*Gründern. Diese Ergebnisse für die Stadt Essen spiegeln sich auf der Landesebene wider, allerdings in einem noch stärkeren positiven Ausmaß.

Migrantische Unternehmer*innen im Gespräch

Die Interviews mit 23 migrantischen Unternehmerinnen*Unternehmern aus den fünf Stadtbezirken lieferten neben den Gründungsmotiven Einblicke in die Herausforderungen, mit denen sich die Migrantinnen*Migranten im Gründungsprozess und darüber hinaus konfrontiert sahen, einschließlich der Unterstützungsinfrastruktur und der Vertretung ihrer Interessen.

Es wurde deutlich, dass die Identifikation der Befragten Unternehmer*innen mit der Stadt Essen hoch ist, ebenso das durchschnittliche Qualifikationsniveau und der hohe Qualitätsanspruch an die eigenen Produkte bzw. Dienstleistungen. Migrantische Unternehmer*innen in der Stadt Essen sind „jung“ und gründen auch unter widrigen Umständen. Die Gründungen erfolgen nicht aus einer Notlage, sondern die Entscheidung zur Selbstständigkeit wird bewusst getroffen.

Die wissensintensiven Unternehmensideen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind vorhanden, allerdings wird mehr Unterstützung benötigt. Den Zugang zu institutioneller Förderung und zu bürokratischen Prozessen finden die migrantischen Unternehmer*innen schwierig. Trotz vorhandener Unterstützungsmöglichkeiten gibt es darüber nicht genügend Informationen und die Zugänglichkeit ist nicht klar. Für die Vernetzung und Zusammenarbeit fehlt es an spezifischen Plattformen. Zudem wurden Diskriminierung und Alltagsrassismus in den Interviews häufig angesprochen. Außerdem wurde deutlich, dass die Beteiligung an dem System der dualen Ausbildung geringer ausgeprägt ist als im Vergleich mit deutschen Unternehmen. Dafür besteht eine höhere Affinität arbeitssuchende Menschen mit anderer Nationalität einzustellen und dann auch auszubilden.

Die Interviews zeigen, dass sich migrantische Unternehmer*innen eine bessere Beratung, Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, Beschleunigung bürokratischer Prozesse, mehrsprachiger Information und kultureller Sensibilität für Geschäftspraktiken wünschen.

Handlungsempfehlungen

Die Handlungsempfehlungen sollen dazu beitragen, migrantische Gründer*innen und Unternehmer*innen mehr zu unterstützen, um so ihr Potenzial weiter auszuschöpfen:

  • Zur Steigerung des Potenzials der Migrantenökonomie ist eine Neujustierung der Beratung notwendig. Diese sollte proaktiv und aufsuchend für bestehende und neue Unternehmen sein, sowie eine zielgerichtete Aufbereitung von Informationen zum Unternehmertum beinhalten. Der Aufbau einer Agentur „Migrantenökonomie“ sollte den Kern der Beratung bilden.
  • Existierende Förderprogramme sollten hinsichtlich ihrer Passgenauigkeit und Zugänglichkeit für migrantische Gründungen kritisch reflektiert und gegebenenfalls angepasst werden. Beispielsweise könnte die Einrichtung eines Fonds für „migrantische Gründungen“ den Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten verbessern und die unternehmerischen Aktivitäten besser unterstützen.
  • Der wirtschaftliche Beitrag der Migrantenökonomie sollte stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert sein. Die Einbindung in das lokale Ökonomiesystem sollte gestärkt werden.
  • Die Schaffung qualifizierter Arbeits- und Ausbildungsplätze in migrantischen Unternehmen sollte vorangetrieben werden, da migrantische Unternehmen einen wichtigen Beitrag zur Beschäftigung von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte sowie zur Fachkräftesicherung und somit zur Arbeitsmarktintegration leisten.

Fazit

Zum ersten Mal existiert durch die Studie eine Datenlage, die auf die Essener Rahmenbedingungen abgestimmt ist. Die Studie zeigt, dass die Migrantenökonomie in Essen ein hohes wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial besitzt und intensiver gefördert werden sollte als bisher. Die Umsetzung der Handlungsempfehlungen bietet die Möglichkeit, die positiven Effekte der migrantischen Ökonomie weiter zu stärken und nachhaltige Entwicklungen innerhalb des lokalen Wirtschaftsgefüges zu fördern. Die Migrantenökonomie in Essen kann einen wesentlichen Beitrag zur Wissensdynamik und zum Innovationsgeschehen am Standort und damit zur qualitativ hochwertigen Wertschöpfung leisten. Durch die Umsetzung der Handlungsempfehlungen soll das Potenzial der Migrantenökonomie sich deutlich erhöhen. Aktuell werden bereits Überlegungen geprüft, inwieweit die Handlungsempfehlungen in die Praxis umgesetzt werden können.

Der Rat der Stadt Essen wird diese Überlegungen mit seinem voraussichtlichen Beschluss Ende Juni beschleunigen und konkretisiert darin, welche Handlungsempfehlungen die Stadtverwaltung zunächst umsetzen soll. Demnach soll zunächst eine Beratungsstelle für migrantische Unternehmer*innen in Essen etabliert werden.

 

Zur Studie „Migrant:innenökonomie in der Stadt Essen“

 

Herausgegeben von:

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